Stiller

"'Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke und bedauere, dass die Situation gerade so zwischen uns ist, wie sie ist.'"
"Und was hat sie darauf gesagt?"
"Ich habe es ihr nicht gesagt."
"Und wieso sagst du es mir?"
"Ich muss es irgendjemandem sagen."
"Und wieso sagst du es nicht ihr?"
"Weil ich es nicht kann."

Er braucht seine Folgefrage nicht zu stellen, weil wir beide wissen, dass ich sie kenne. Im Hintergrund läuft Musik von Wir sind Helden. So unterschiedlich die Jahrzehnte waren, so ähnlich war das Gefühl.

Ich stehe auf und anhand meiner Bewegungen liest er die Antwort auf seine ungestellt-gestellte Frage.
"Ich habe noch keine wirkliche Antwort darauf. Es fühlt sich an, als hätte jemand am Thermostat gedreht oder eine zufällige Zahl in den Algorithmus geworfen. Eher eine Variable, die sich kontinuierlich ändert", korrigiere ich mich selbst. "Ich bekomme keine Antwort, keine Orientierung, keine Position. Jeder Schritt kann richtig und zugleich falsch sein."
"Was ist denn für dich der richtige Schritt?", fragt er mit stoischer Gelassenheit.
"Genau das ist mein Problem. Dass ich darauf keine Antwort habe. Ich meine, ich habe gestern überlegt, ob ich ihr eine Nachricht schicke oder nicht. Ich habe als Hilfe eine Tarotkarte gezogen: Ein Frosch, der umgeklappt mit dem Kopf voran im Sand liegt und zu keiner Handlung fähig ist."
"So wie du dich fühlst."
"So wie ich mich fühle", entgegne ich mit leichtem Nicken. "Und dann frage ich das Leben 'Willst du mich verarschen?'"
"Und, was hat das Leben geantwortet?"
"Nichts, auch nichts."
"Und, was hast du gemacht?"
Ich bewundere seine innere Ruhe. "Im Begleitheft zur Karte gelesen. Was, aufgepasst, auch nichts wirklich geholfen hat." Ich lache ein wenig über mich und meine eigene Situation.
"Und?"
"Ich habe mental eine Münze geworfen, ihr die Nachricht geschrieben, das Schlimmste angenommen und das Beste gehofft."
"Und?"
"Sie hat's gewürdigt."
"Und?"
"Das macht's nicht leichter", zucke ich mit den Schultern.

"Junge, du bist gerade anstrengend."
"Ich weiß", sage ich mit einem Ausdruck körperlichen Verzweifelns.
"Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie du in acht Jahren über dich und dein Verhalten in der Situation denkst? Das hatten wir doch erst letztens."
"'Menschlich?'", antworte ich, vorsichtig und in der Hoffnung, dass mein Zukunfts-Ich ein wenig nachsichtiger ist als mein Gegenwarts-Ich mit meinem Vergangenheits-Ich.
"Okay", entgegnet er und kann nichts darauf sagen.

Ein kurzer Moment der Stille durchtrennt Raum und Zeit zwischen uns.

"Danke." Ich nicke ihm andächtig und anerkennend zu.
"Wofür?"
"Die Antworten."

Er nickt zurück. Wir wissen beide, wovon ich spreche.