Lebenswirklichkeiten
"Komm mal mit", sage ich und halte ihm die sich nach innen öffnende Tür auf. Vertrauensvoll geht er in den sich öffnenden Raum, in dem er von links nach rechts fünf identisch aussehende Türen sieht.
"Was ist das?", fragt er mit einer Mischung aus Überraschung und Neugier.
"Andere Lebenswirklichkeiten, die ich den letzten Tagen aufgegriffen habe."
"Weil du mal wieder unterwegs warst."
"Weil ich mal wieder unterwegs war", nicke ich. "Findest du es nicht eindrucksvoll, wie unterschiedlich sie alle aussehen?"
Er richtet seinen Blick auf die einzelnen Türen. "Ich sehe keinen Unterschied."
"Ja", bemerke ich meinen Irrtum, sie unverwechselbar in den Raum zu zeichnen. Mit einer halbkreisförmigen Handbewegung verleihe ich den Pforten ihre Individualität, so als wäre sie niemals weg gewesen.
"Und?"
"Ich sehe keinen Unterschied", wiederholt er seine Aussage.
Ich lache, ist er einer der wenigen Menschen, die meine Inszenierungen mit den seinigen ins Wanken bringt. Ich schiebe die Wand mit den Türen zu einem Kartenstapel mit beiden Händen zusammen und drehe die oberste um. "Was siehst du?"
"Eine Welle", antwortet er zu dem Motiv der Karte, welches die fünfte Tür vom Anfang zeigt.
"Und jetzt?", werfe ich die Karte zur Seite und flippe die nächste.
"Einen Stein. Eher einen perfekten kreisrunden Kreis."
"Und jetzt", wiederhole ich die Drehung zum dritten Mal.
"Ein Erdbeben." Er klingt von seiner eigenen Wahrnehmung überrascht. "Mit einer Menge Feuer, vielleicht auch Lava."
Es folgen ein Regensturm und ein Bild, welches er als friedlich beschreibt.
"Und welche davon gehört dir?"
"Keine."
"Und welche davon hättest du gern?"
"Keine", antworte ich erneut und ziehe meine sechste Karte aus dem Raum, "aber den ein oder anderen Aspekt möchte ich gern übernehmen."
Buch: Das lebende Buch
Geschichten: Jahresrückblick
Personen: Er
Tags: #Inspiration #karten #modell