Innehalten
"Robert, bleib bei dir." Ihre Worte sind so eindringlich, klar und mahnend, dass es keines Ausrufezeichens bedarf.
Ich stoppe meine Gehbewegung und halte meinen ungeschrittenen Schritt in der Luft. Vor mir ein Abgrund. Ich ziehe meinen rechten Fuß zurück neben mein Standbein und blicke hinab in die Tiefe. "Das hätte ziemlich weh getan", kommentiere ich unumwunden die Situation.
Sie steht mit ihrem elfengleichen Körper leicht hinter mir. Die Rüstung, die ihren Körper bekleidet, ist geschmückt von dezenten Verzierungen, die ihren Veteranenstatus bezeugen. Ihre Klingen und magische Begabung sind nirgends zu sehen, aber für das geübte Auge erahnbar.
"Hätte es", entgegnet sie nüchtern.
Mit klaren Schritten laufe ich links um die Fallgrube.
"Und du weißt, dass es nicht nur dich getroffen hätte, oder?"
Ich nicke und erinnere mich an das kosmische Band, welches mich mit der Königin unseres Hofes verbindet. Meinen Treueschwur und meine Position am Fuße der Treppen ihres Thrones.
"Wenn du nicht bei dir bleibst, reißt es euch beide in den Abgrund."
Über dem Abgrund manifestiert sich eine fünf Meter breite Holzbrücke mit hüfthohem Geländer. Mehr Spielraum und Sicherheit als die Gratwanderungen der vergangenen Jahrzehnte, zudem hatte ich meiner Ausrüstung über all die Zeit einige Verbesserungen hinzugefügt. Die Ebene lud ein, zu vertrauen.
"Ich weiß", nicke ich mit vollem Verantwortungsbewusstsein und nachdenklichen Blick mir selbst zu. "Und es würde ein schlechtes Licht auf dich werfen", schaue ich einen kurzen Moment später mit schelmischem Lächeln zu ihr rüber.
"Hey!" Mit wohldosierter Faust schlägt sie mir gegen die Schulter und wir wissen beide, dass ich Recht habe.
"Ich bin in jedem Fall froh, dass du mich auserwählt hast."
Am zweiten Tag der Formierung war sie auf mich zugekommen und hatte mich als ihren Schüler wie Streiter auserkoren. Sie, die sich selbst einen zarten Schleier der Unnahbarkeit und Distanz um sich gelegt und sich im allerersten Moment wie ein Blumenmädchen gegeben hatte. Die leichtfüßige Schritte suggerierte, aber faktisch mit beiden Füßen auf dem Boden stand.
Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken quittierte sie wortlos meine Worte. Es gab wenig, worüber wir faktisch sprechen mussten, um uns zu verstehen.
Buch: Das lebende Buch
Geschichten: Tür des Universums
Personen: Eva
Tags: #innehalten #mittelalter #achtsamkeit #präsenz