Ein schlechter Mensch

"Woran erkennst du, dass du die Grenze zu einem schlechten Menschen überschreitest?"
"Wie meinst du das?" Er schaute mich verwundert an.
"Woran merkst du, dass du der Skorpion und nicht der Frosch bist?"
Derselbe Geschichtsausdruck. Er schien die Geschichte nicht zu kennen, und so eröffnete ich ihm die tiefe Erkenntnis von Äsops Fabel:

Ein Skorpion mit weit verzweigter Verwandtschaft erhielt die Nachricht, dass er zu einer Hochzeit eines Verwandten eingeladen sei und er möge doch bitte kommen.
Der Skorpion, ein Familienmensch, machte sich also auf die beschwerliche und lange Reise.
Irgendwann kam er an einen breiten reißenden Strom den er nicht überqueren konnte. Also begann er am diesseitigen Ufer hin und herzulaufen um eine Möglichkeit zum Überqueren zu finden.
Dabei stieß er auf einen Frosch der im Schilf saß.
Er sprach ihn an, ob er ihn nicht übersetzen würde.
Indes, der Frosch lachte nur einmal kurz und sprach: "Ich müsste ein schöner Narr sein, wenn ich dich auf meinen Rücken ließe, du stichst mich mit deinem Stachel und ich bin hinüber."
Der Skorpion jedoch entgegnete: "Der Narr wäre dann wohl ich. Denn wenn ich dich steche und du stirbst, so sterbe ich mit dir, da ich nicht schwimmen kann."
So nahm denn der Frosch den Skorpion auf den Rücken und begann über den Fluss zu schwimmen. In der Mitte des Stromes jedoch stach der Skorpion den Frosch in den Rücken.
Der Frosch, sterbend sah den Skorpion an und fragte ihn: "Warum hast du das getan? Nun werden wir beide sterben."
Der Skorpion antwortete bevor er in den Fluten versank: "Ich kann nichts dafür, es ist meine Natur."

"Was macht das für einen Unterschied? Sie ertrinken beide." Er lachte.
Ich war für einen Moment ob dieses Gedanken perplex.
"Bewusstsein", sagte ich nach einem Moment der Stille und blickte durch die Nacht. "Wenn du deine Klingen voller Bewusstsein in deinen Gegenüber rammst, ihn ausbluten lässt und so zerpflückst, dass nichts mehr von ihm übrig bleibt."
"Überschätzt du dich nicht ein wenig?"
Ich drehte das Metall an den Innenseiten meiner Handgelenke für einen Augenblick demonstrativ nach außen. "Proven by experience." Meine Schulterblätter drückten sich nach hinten, bevor ich locker ließ. "Wenn du allem Anschein nach von Kindestagen an unterschwelliger Kommunikation ausgesetzt warst, adaptierst du. Im Erkennen, im Abwehren, im Anwenden. Zumindest war das bei mir so." Der herausfordernde Unterton war unverkennbar.
"Und wie macht dich das möglicherweise zum schlechten Menschen?"
"Wenn ich mit dem Finger schnipse, zwanzig Linien in den Raum zeichne, mein Gegenüber Stricke daraus macht und sich darin erhängt."
"Und inwiefern macht dich das möglicherweise zum schlechten Menschen?"
"Wenn ich vor dem Schnipsen weiß, was passiert, und es dennoch tue. Nicht dennoch, sondern gerade deswegen."
"Die Intention?"
"Die Unverhältnismäßigkeit."
"Mehr Verhältnismäßigkeit?"
"Wenn ich mit Messern werfe, sind's halt Messer und keine Zahnstocher."
"Schutzwesten verteilen?"
"Und Verbandzeug, Wundsalbe, Schneidwerkzeug,...", begann ich weitere hilfreiche Utensilien aufzuzählen.
Wir lachten.
"Ich glaube wesentlich ist das passende Gegenüber."
"Skorpion-Skorpion?"
Meine Augen klappten zur Bestätigung für einen Moment nach unten. Auch, wenn wir andere Tiere waren.
"Und dann seid ihr gemeinsam schlechte Menschen?"
"Minus mal Minus ergibt Plus", entgegnete ich ihm mit einem Augenzwinkern und warf ein Messer in seine Richtung, das keines war.