Ein halbes Leben
"Mehr als ein halbes Leben ist es her." Ich greife zu meinem Weinglas und schaue in den Raum, der das Zwischen zwischen uns trennt.
"Du weißt, das ich nicht wirklich da bin?"
Meine Augenlider bejahen wortlos ihre Frage während meine Lippen am Glasrand nippen.
"Du willst mir nicht wirklich sagen, dass es dich heute immer noch beschäftigt, oder?"
"Sagen will ich dir das nicht, nein." Ich komme nicht umher über ihre Formulierung zu lachen. "Ich meine, wenn es nach mir ginge, wäre dem auch nicht so. Aber faktisch", seufze ich und zucke anschließend mit den Schultern, "ist das Erleben nun einmal da."
Wir schauen beide aus dem Fenster, das nicht existiert. Auf Studieneinführungstage, dieselbe Wellenlänge von Anfang an und Stürme, die uns ins Fleisch schnitten. Auf Lug, Betrug und zwischenmenschlichen Verrat, der vielleicht nur ein menschlicher war.
"Du hast wieder angefangen zu schreiben." Ihr Sprechen beschlägt die Scheibe.
"Habe ich." Mein bestätigendes Nicken ist nuanciert minimalistisch.
"Eine neue Frau?"
Ich schüttele den Kopf.
Der Großteil meines literarischen Schreibens war damals unserer Interaktion entsprungen: Unserem Sein folgte das Nichts. Das Nichts beherbergte die Leere, die Leere einen schier unaushaltbaren Schmerz. Das Schreiben wurde vom lustvollen Ausdruck zum überlebensnotwendigen Rettungsanker.
"Aber du bist verheiratet?" Ihr Blick wandert auf den Ring an meiner rechten Hand.
"Das war nicht deine Frage", entgegne ich ihr. Auch wenn meine Antwort zuvor nur die halbe Wahrheit gewesen war, gab es in der jüngeren Vergangenheit eine Frau, die mir Grund und Anlass gegeben hatte wieder häufiger zu schreiben.
"Und was ist deine Antwort?"
"Dass ich bis heute die Freundschaft betrauere, die wir hatten. Die ich mit dir hatte."
Ihr Atem an der Scheibe ist verblasst. Sie war niemals hier.
Buch: Das lebende Buch
Geschichten: Verschwendung
Personen: Eisprinzessin
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