Bahnhofsbegegnungen

Wir hatten uns vielleicht vor vier, fünf Jahren das letzte Mal gesehen.
"Mensch, dass ich dich hier treffe, hätte ich nicht erwartet", eröffnet er sichtlich überrascht das Gespräch.
Ich schaue kurz irritiert, erkenne seine Person und herze ihn, wie ich nur wenige Menschen herze. Bei ihm ist das anders und ich freue mich tatsächlich ihn wiederzusehen.
"Ich bin auf Bahnhöfen zu Hause", beantworte ich seine Verwunderung und verharre für einen Moment in meiner Mitte. Der Bahnhof: mein Hort der Gelassenheit und Ruhe. Die Schnittstelle, an der ich mich als Mensch unter Menschen befinde und mich trotzdem kaum einer beachtet. Der Ort der Umtriebigkeit, an dem die meisten von einem ICE zum nächsten hetzen, auf Gleise hin oder von Gleisen weg, und der Ort, an dem ich gelernt habe, dass es okay ist erst einen Zug später zum Zug zu kommen.

Wir setzen uns in ein kleines Café in der Bahnhofshalle, wenn man die Filiale der Kette euphemistischerweise so bezeichnen mag. Er bestellt eine heiße Schokolade mit Sahne, ich tue es auch, und lasse mich in den schwarzen Ledersessel sinken. Mein Gepäck steht links an meiner Seite.

"Wie geht es dir?", frage ich mit einem leichten Seufzer.
"Ich habe jemanden kennengelernt", sagt er mit einem herzerfrischenden Lachen, das ansteckend ist. "Also kennengelernt ist vielleicht zu viel gesagt, aber es gibt jemanden, der mich interessiert."
"Ah ja", entgegne ich mit einem wissenden Schmunzeln und warte nur darauf, dass er mehr von sich erzählt. Manche Dinge ändern sich nie, auch nicht nach vier oder fünf Jahren.
Er nickt und Menschen, die uns nicht kennen, fänden es befremdlich, dass wir nach all der Zeit von null auf hundert gehen. Er und ich, wir finden andere Menschen befremdlich. Ich mehr als er.

Er nickt erneut und seufzt, sein Gesichtsausdruck wird nachdenklich. "Ja, das mit dem Kennenlernen", spricht er mehr zu sich selbst als mit mir. "Du weißt ja, wie das ist."
Sein Blick sucht unterschwellig die altbekannte Bestätigung. Ich nicke zustimmend. "Ja, ich weiß, wie das ist", antworte ich und seufze leicht.

Schweigen.

"Es ist ein wenig wie Zug fahren, oder?"
Mein Blick geht aus dem Fenster hinaus in die Halle, wo die Menschen das tun, was sie auch vorher bereits taten.
"Du fährst das erste Mal Zug und kannst es gar nicht in Worte fassen. Die Geschwindigkeit, die Sicherheit, die Landschaft, die an dir vorbeizieht. Und dann legt der Zug eine Vollbremsung hin, weil sich irgendjemand davorgeworfen hat, und du wamst mit dem Kopf übelst gegen den Vordersitz." Mit einer ruckartigen Bewegung stellt er beim Sprechen die Erfahrung nach, dass man Sorge haben könnte er würde sich gleich selbst verletzen. Meine Augensakkaden gehen mit den Menschen mit und lassen sie vorbeiziehen.
"BOOM", lässt er den Zug mit einer ausladenden Bewegung in die Luft gehen.
"Und weil du dir einmal den Kopf gestoßen hast, hast du Angst davor in den nächsten Zug zu steigen", wende ich mich ihm wieder zu.
"Genau." Er fühlt sich verstanden.
"Eine scheiß Metapher", entgegne ich und lache. "Aber ich weiß, was du meinst." Die Metapher ist wirklich schlecht.

"Wie machst du das?", möchte er wissen.
"Regionalbahn", antworte ich ohne zu überlegen. "Regionalbahn, oder laufen."
"Und du meinst, das ist es?"
"Nein", schüttele ich den Kopf. "Aber manchmal ist es ganz hilfreich nicht gleich in den nächsten ICE einzusteigen. Vor allem dann nicht, wenn du ahnst, in welche Richtung er fährt." Die Worte zergehen wie die Sahne der heißen Schokolade auf meiner Zunge und ich komme mir für einen kurzen Moment unheimlich geil vor.
"Und dann?"
In denke an "Reiseroute checken", "abwarten und kommen lassen" oder "Irgendwann kommt ein Zug, bei dem du dir denkst: "Das ist der richtige und ich riskier's."

"Können wir bitte von dieser gottverdammten Zugmetapher weggehen?", bettele ich leicht gequält und bin vermutlich der Einzige, der sich in dem Moment daran aufhängt.
Er nickt.
"Just go for it. Schau, wohin es dich führt, was die anderen so anbieten und womit es dir gut geht. Sei offen dafür aus- und umzusteigen. Und", ich nippe an meiner Tasse, halte für einen Augenblick inne und schüttele kurz den Kopf. "Lass die Finger von der Notbremse", sage ich mit nachdrücklichem Blick. "Wenn du die ganze Zeit an der Notbremse hängst, brauchst du gar nicht erst einsteigen. Das versaut dem anderen nur die Fahrt."

Sein Blick richtet sich nachdenklich nach vorne und ich sehe, dass sich etwas in ihm bewegt. Was für ein Zufall, dass wir uns tatsächlich auf einem Bahnhof wieder begegnet sind. Manchmal glaube ich, dass ich in den Momenten der bessere Psychologe bin, in denen ich keiner bin.